Wintervergnügen der Waldkappeler Kinder vor dem Kriege

Immer wieder steigen Erinnerungsbilder  aus Kindheitstagen empor, die es wert sind, festgehalten zu werden. Vieles ist im Denkgehäuse gespeichert und  nicht auf  Nimmerwiedersehn verschwunden. Das Gegenteil ist der Fall. Sogar ganz belanglose Dinge werden wieder gegenwärtig. Je älter man wird, um so deutlicher treten die Bilder aus früheren Zeiten hervor.  Man meint  z.B. wieder die geölten Fußböden der Klassenzimmer zu riechen und die Schläge der Kirchturmuhr, die das Ende einer verhaßten Schulstunde verkündeten, zu hören. 

Ganz deutlich treten wieder die Klassenlehrer hervor.. Ich sehe wieder Hauptlehrer Böpel beim Putzen seines goldenen Kneifers. Aber auch Lehrer Allendorf, der beim Verteilen von Hieben schnell bei der Hand war und immer wieder vom Kyffhäuserbund erzählte,  dem er sich leidenschaftlich verbunden fühlte.  Man spürt wieder die Nähe der Spielgefährten und Schulkameraden, die gleiche Interessen hatten und froh waren, wenn die Schulunterricht  zu Ende war und  der Schulranzen in die Ecke fliegen  konnte. In der kalten Jahreszeit wurde auf dem Nachhauseweg  schon tüchtig geschurrt,  sofern das Wasser in den Kandeln gefroren war und keiner die Schurre durch Asche oder Salz zerstört hatte.  Fehlte eine Schurre in der Nähe, so haben wir Kinder nachgeholfen. Ein paar Eimer Wasser  sorgten über Nacht für eine exzellente Schurre, die gar nicht lang genug sein konnte. Bei gefügigem Schnee wurde auch schon einmal ein Schneeball geworfen, was manchmal zu einer richtigen Schneeballschlacht ausartete. Waren Mädchen dabei, so wurden diese von den Jungen „gewaschen“, in dem ihnen ein Schneeball ins Gesicht gedrückt und dieser verrieben  wurde.  Das ging natürlich nicht ohne Geschrei ab. Die älteren Frauen  sagten  immer, noch schlimmer wäre es gewesen, wenn ein Mädchen unbeachtet blieb und von den Jungen nicht gewaschen wurde. Sie wußten, was sie sagten.  

Kaum war die Suppe gegessen,  ging’s hinaus in die verschneite Landschaft. Wer Schneeschuhe hatte, den zog’s  in das nahe gelegene Schwenschenbachtal,  in  Voß Loch oder in den Schützengraben, um dort die am Tag zuvor gebauten Sprungschanzen auszuprobieren, die durch Nachtfrost noch fester geworden waren. Die Sprünge endeten meistens mit einem Sturz  oder auch mit dem Abbruch einer Schneeschuhspitze. So bin ich meine Bretter losgeworden, ehe der Winter so recht angefangen hatte. Ich kann mich daran erinnern, wie einem bei diesem Wintervergnügen der Wind  kräftig um die Ohren blies. Da mittags nicht selten  die Sonne schien, war man meist zu dünn angezogen und vor lauter Vorfreude hatte man des Öftern vergessen, eine Kappe aufzusetzen. Rote Ohren waren deshalb nichts außergewöhnliches. Wenn dann auch noch die Handschuhe fehlten, weil sie Zuhause nicht zu finden, zerrissen oder verloren gegangen waren, dauerte es nicht lange, bis auch  die Hände völlig gefühllos wurden und mit den kalten Füßen wetteiferten. Das schmerzhafte „Kribbeln“ in Händen und Füßen am Abend war die Quittung für unser unvernünftiges Verhalten am Nachmittag. Manchmal war das

der Beginn von Frostbeulen, die sich  an den Fersen entwickelten,  und einen höllischen  Juckreiz auslösten.

Natürlich wurde auch Schlittschuhe gelaufen. Dafür hatte man das zugefrorene  Vorwärmbecken und in kalten Wintern die überschwemmten  Schemmerwiesen oder die zugefrorenen Flüsse und Bäche. So oft konnten wir allerdings dieses Vergnügen nicht nachgehen, weil es in vielen Familien  nur ein Paar Schlittschuhe gab  und diese meist vom  älteren Bruder beansprucht wurden.

Schemmerbachwiesen

Im Gegensatz zu heute fehlte es  oft an geeignetem Schuhwerk, denn die Schlittschuhe mußten mit einem Spezialschlüssel an die Schuhsohlen angeschraubt werden. Waren diese nicht in Ordnung, hielten die Schlittschuhe nicht an den Sohlen fest. Noch ein größeres Malheur war es, wenn der Schlüssel ausgeleiert war oder verloren wurde.

Da war es schon besser, sich im Wachtgraben zu vergnügen. Hier hatte man keine langen Anmarschwege, war allerdings dem schnellen Zugriff der Eltern ausgesetzt, wenn es galt einen Weg zu besorgen. Dafür konnte man den  Schauplatz aber kurzzeitig  verlassen, um sich die kaltgewordenen  Glieder zuhause wieder  aufzuwärmen.  Sobald der Schnee hoch genug lag, war dieser steile Weg geradezu ein Paradies für die Kinder aus dem Oberland. Zuerst wurde  Schlitten gefahren, bis der Schnee sich verfestigt hatte und man auf andere „Wintersportgeräte“ umsteigen konnte. Ein besonderes Vergnügen war es,  auf Hefekartons ( die es bei Hartungs in ausreichender Menge gab) den Berg herunterzurutschen. Je glatter die Unterlage wurde, desto schneller rutschte die Pappe und man hatte große Mühe, nicht an den Zaun zu schlittern oder an spitzen Steinen, die  vereinzelt aus der Rutschbahn schauten, hängenzubleiben. Mancher Riss im Hosenboden stammte von diesen Hindernissen. Besonders toll trieb es einmal Karl Stück (er hat in den letzten Kriegstagen noch sein junges Leben lassen müssen), der sich von Kollmann eine ausrangierte Mule besorgt hatte und mit dieser auf der inzwischen spiegelglatt gewordenen  Fläche ins Unterland sauste. Kein Wunder, wenn er das Gefährt nicht zum stehen brachte und erst das Scheunentor von Rupperts die Fahrt beendete. Es wurde ständig was Neues ausprobiert. So war es üblich zwei oder mehre  Schlitten zusammenzubinden (wir nannten diese Variante Lenkpart) und mit diesem „Geleitzug“ loszupreschen. Der vordere Schlitten diente dabei als Steuerung. Ganz Mutige legten sich sogar auf diesen „Steuerschlitten“ um zu beweisen, daß sie sich vor  nichts fürchteten. Manche Kinder fuhren mit selbstgezimmerten Schlitten.  Man nannte diese selbst gezimmerten Rutschen „Jebben“, so wie man im  Dialekt  die  ganze Rodelei  „Jebben“ nannte. Man ging auf die Jebbe oder jeppte. Diese Bezeichnung für einen primitiven Schlitten soll laut Mundartlexikon  im  vorigen Jahrhundert  in  Waldkappel  entstanden sein.         

Holzrodel

So ganz ohne „Einspruch“ der Erwachsenen ging diese Toberei im Wachtgraben natürlich nicht ab. Es war z.B. für die Arbeiter  der Zigarrenfabrik, die vor dem Tore wohnten und zum Mittagessen nachhause wollten, nicht einfach, sich im Wachtgraben am Drahtzaun entlangzuhangeln, um nicht zu stürzen. Hier muß ich ans Schröder Anna denken, die jeden Schritt mit Schimpfworten garnierte, die sie halblaut vor sich hin brabbelte und damit ihren Zorn auf die Lausejungen zum Ausdruck brachte.

Aber auch Vollmanns Wilhelm (Kasten), der am Ende des Wachtgrabens im Ruhrloch wohnte, muß hier erwähnt werden. Auch er war kein Freund der schlittenfahrenden Jugend. Er streute immer wieder Asche auf die Fahrbahn, um uns die Freude am Schlittenfahren zu vermiesen. Dieses Hindernis hatten wir aber im Handumdrehen behoben. Ein paar Schippen Schnee auf die Bahn gebracht, machten sie wieder glatt und schnell. Noch ein Gegner der fröhlichen Kinder war der alte Ruppert. Er wurde furchtbar böse, wenn wieder ein Schlitten an  sein Scheunentor rummste, was im Holz Spuren hinterließ. Von Wachtmeister Wetzel soll hier auch  die Rede sein. Im Wachtgraben ließ er uns in Ruhe, aber in der Langgasse war er stets zur Stelle, wenn es galt, einem Kind den Schlitten abzunehmen. Er war, schon wegen seiner Körperlänge, eine gefüchtete Respektsperson und hatte immer das Gefühl, für die Sicherheit der Bürger etwas tun zu müssen. So kontrollierte er ständig auch die Hausbesitzer, ob sie ihren Verpflichtungen nachgekommen wären, die Straße zu kehren und im Winter den Schnee zu räumen. Diplomatie war nicht gerade seine Stärke. Paßte ihm etwas nicht, brüllte er los und drohte mit  dem Strafzettel. Er war ein ausgesprochener Kinderschreck und alle vermieden es, mit ihm in Berührung zu kommen. Die letzte Erinnerung an ihn, war sein Tschako, den Walter Hartung sich nach dem Kriege für eine Maskenball ausgeliehen hatte. Er muß wohl nicht zurückgegeben worden sein, denn die Reste dieser martialischen Kopfbedeckung flogen noch jahrelang bei Hartungs im Hause herum.

Zu guterletzt möchte ich noch ein Wintervergnügen erwähnen, was wir verbotener Weise immer wieder huldigten. Wir banden z.B. unsere Schlitten an ein größeres Pferdefuhrwerk und ließen uns von diesem ziehen, oder wir hielten uns einfach am Wagen fest und glitten mit unserem  Schlittschuhen über die festgefahrene Schneedecke. Wir dachten dabei nicht ans Hinfallen, sondern an unseren Gendarm Wetzel, der glaubte, solchen Frevel ahnden zu müssen.

Die Zeit kehrt für uns nicht wieder zurück. Ich kann mir aber denken, daß die Gefühle der heutigen Jugend beim ersten Schneefall ähnlich sind – nur bleibt ihnen nicht mehr so viel Zeit um draußen herumzutollen. Auch hier haben Fernsehen und Computerspiele für eine Änderung im Tagesablauf der Kinder gesorgt

Verfaßt von Helmut Hartung im Oktober 1999

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